Donnerstag, 5. Januar 2012

Schlamm drüber

Kindheitserinnerungen/Fragmente

Wir befinden uns im Winter 1946 auf 1947, einer jener Winter, die nicht nur wegen der Kälte sonder auch wegen des Mangels an Lebensmitteln und Brennmaterial besondere Notsituationen hervorrief. Wir waren ausgebombt, hatten aber dennoch das Glück mit unserer Familie in der ehemaligen Wohnung, die provisorisch hergerichtet war, wieder einziehen zu können. Nicht zuletzt deshalb, weil mein Vater nach den Bombenangriffen tatkräftige Löscharbeit geleistet hatte und nicht gezündete Brandstäbe mittels Schippe auf das Grundstück geworfen hatte, wo sie keinen sonderlichen Schaden anrichten konnten.
So zogen wir, Vater und Mutter sowie meine älteren Schwestern Ruth und Karin mit unseren verbliebenen Habseligkeiten ein, während mein Bruder als Fallschirmjäger in englischer Gefangenschaft in Ägypten schmorte. Immerhin, er hatte den Krieg überlebt.
Nun galt es, irgendwie die Familie durchzubringen, was insbesondere meine krebskranke Mutter stark belastete.
Da andere Räumlichkeiten nicht beheizbar waren, spielte sich das Leben ausschließlich in unserer Küche statt, ein Raum, der durch einen alten Küchenherd gewärmt wurde –
wenn man das Wärme nennen konnte. Die Fenster waren noch nicht verglast, es gab eine Art Drahtglas, das seinen Namen nicht verdiente, denn es bestand aus einem engen Metallfäden Geflecht milchig, undurchsichtig mit einer Art Kunststoff bespannt. Herrlich, wenn man mit dem kleinen Finger diese Schicht durchstieß und ein Guckloch auf das imposante Trümmerfeld erhielt. Dermaßen unschuldiges Kinderspiel erboste die Eltern natürlich, denn es brachte zusätzliche Kälte herein, allerdings, im Nachhinein betrachtet auch ein wenig Sauerstoff, denn die „Schmorverbrennung“ der zugewiesenen Schlammkohle stank fürchterlich. Soweit die Einstimmung auf die damalige Situation doch halt – ich vergaß zu erwähnen, daß wir im ersten Stock des Mehrfamilienhauses „wohnten“. Das Küchenfenster ging zum Hof hinaus (durch eine kleine Wäschebleiche auch Garten genannt). Öffnete man das Fenster, so schaute man auf den letzten Streckenabschnitt eines Rangierbahnhofes auf dem die Züge der Reichsbahn mit Steinkohle gefüllten Waggons für den Abtransport
auf Nimmerwiedersehen in irgend ein Siegerland zusammengestellt wurden.
Welch eine teuflische Versuchung für eine frierende Meute ausgemergelter Kriegsverlierer,
die eines noch nicht aufgeben hatten: den Kampf zu überleben! So war es nicht verwunderlich, daß bei der frühzeitig einbrechenden Dunkelheit sich dunkle Gestalten an dem Bahndamm herumtrieben, auf die Güterzüge kletterten und die begehrte Steinkohle aus den Waggons warfen... sagen wir Mal aus Vorsorge, damit die überladenen Züge auch ohne Unfall ihre Zielladestationen erreichten. Gemäß den harten Zeiten weniger diplomatisch ausgedrückt: hier war Kohlenklau am Werk. Eine in mehrfacher Hinsicht gefährliche Angelegenheit, denn 1. war man nie sicher, wann sich die Züge wieder in Bewegung setzten 8es gab entsetzliche Unfälle beim Herabspringen), 2. Die Züge waren von bewaffneten Alliierten (Briten und Polen) bewacht, die auch hin und wieder das Feuer eröffneten, da ich
Unfähigkeit nicht unterstellen möchte, offenbar aus humanitären Gründen vorbeischossen.
Und wir waren dabei: meine Schwester Ruth (17), meine Schwester Karin (9) und ich (Jahrgang 1940). Meine Schwester Ruth war mutig und kletterte mit auf die Güterwagen
während meine kleine Schwester und ich mich an die Verstecke machten, die die Großen in der zerbombten alten Glashütte anlegten. wir klauten also den Klauern gewissermaßen ihre Beute –allerdings in dem bescheidenen Maße, die zur Füllung unserer kleinen Körbe ausreichten. Immerhin konnte man damit ein Mittagessen (was man damals so hatte) kochen und ein wenig heizen ging auch.
Doch dann geschah das Unvermeidliche.Während eine Gruppe einschließlich meiner Schwester Ruth sich noch auf dem Güterzug befand, setzte der sich in Bewegung und die kleine Gruppe „genoß“ eine Freifahrt, denn an ein Abspringen war nicht mehr zu denken.
Zu Hause wartete man voll Sorge auf die Rückkehr meiner heldenhaften Schwester.
Es wurde Nacht und es gab noch immer kein Lebenszeichen von ihr. Wir suchten den Bahndamm ab in der Hoffnung allerdings sie dort nicht verletzt irgendwo zu finden.
Es wurde vier Uhr morgens als meine Schwester frierend wieder vor unser Wohnungstür stand. Eine ungeheuerliche Erleichterung machte sich verständlicher Weise breit.
Meine Schwester war mit ihrer Gruppe nach kurzer Fahrt zu einem Rangiergleis von der polnischen Streife entdeckt worden und nach eingehendem Verhör in der Wachstube mit einer Verwarnung entlassen worden, was ihrer Jugend und ihrem Geschlecht wohl zu verdanken war.
Von diesem Abenteuer geschockt, gab es seitens der Eltern ein absolutes Verbot sich weiterhin an der Beschaffung des schwarzen Goldes zu beteiligen.
Für mich und meine Mutter hieß dies, mit einer kleinen Zinkwanne ausgerüstet, den nächsten Kohlenhändler (sehr, sehr weit weg für meine Begriffe) aufzusuchen und uns die zugeteilte Ration Schlammkohle einfüllen zu lassen. So schleppten wir uns nach Hause...
aber Schlamm drüber...

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