Montag, 19. Oktober 2015

Wiederkehr



Die klebrige Feuchtigkeit des Mittelmeers saß noch hartnäckig in seinen Kleidern fest. Sie wurde ergänzt durch den Schweiß der Anstrengungen eines über hunderten von Kilometern unerträglich staubigen Marsches, der durch Hunger und quälenden Durst die Kraft seiner 30 Jahre an die Grenzen der Belastbarkeit brachten, wenn sie nicht bereits überschritten war. So war es die Hoffnung auf ein friedliches und freies Leben, die ihn noch auf den Beinen hielt. Er stolperte mehr, denn er ging in einer Kolonne von Schicksalsgenossen
Getriebene, Vertriebene und Flüchtlinge, die Despoten, Terror oder bitterer Armut zu entkommen suchten. Ihr Einsatz war hoch, Verlust der Heimat und Familie stets unter Todesgefahr
aber dem unbedingten Willen zum Durchhalten.
Nur noch eine Nacht bis zu ersehnten Ziel. Nur noch einmal unter freiem Himmel auf nackter Erde verbringen. Dann , ja dann....
Der Marsch für heute war zu Ende. Dort, wo er gerade war, legte er sich nieder. Die Erschöpfung schenkte ihm einen sofortigen Schlaf.
Wirre Traumbilder versetzten ihn in Unruhe.
Da war ein Ehepaar. Sie hochschwanger, er fast im Greisenalter. Sie suchten eine Unterkunft, denn ihnen und anderen Landsleuten war von der Besatzungsmacht befohlen worden, sich registrieren zu lassen. Bei dem Wort „registrieren“
wurde ihm bewußt, das dies seine Eltern waren.
Das Traumbild verlegte den Ort. Er sah sich als kleiner Junge mit seinen Eltern auf der Flucht in ein fremdes Land. Wieder hatte ein Despot zur Erhaltung seiner Macht Mordbefehle erteilt. Der Familie blieb nichts als Flucht. „Eigenartig,“ dachte er, etwas kam ihm irgendwie bekannt vor.
Der Traum ging weiter... ein Albtraum? Er wälzte sich auf dem harten Boden hin und her. Sah sich plötzlich von einigen Anhängern umgeben, denen er Liebe und Barmherzigkeit predigte. Waren das seine Worte, Worte einer philosophischen Betrachtung? Aufforderung das Leben in diesem Sinne zu ändern. Gefährliche Gedanken für die Machthaber. Dann der Verrat...wie immer war Geld im Spiel. Es waren keine zwölf Stunden her, da hatte er seine Freunde an seinen Tisch gebeten.
Verhaftung und Folter, er spürte die unsäglichen Schmerzen einer grausamen Hinrichtung.
Der Flüchtling wachte auf, waren das eigene Erlebnisse, wie konnte das sein?
Seine Gedanken kreisten um die Worte: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Hatte man diese Worte ihm eingeflüstert? Waren das seine eigenen Worte? Er bekam kaum mit, daß man ihn in das Land seiner Sehnsucht abschob. Man klatschte Beifall...galt das ihm?
Die Harte Wirklichkeit holte ihn bald ein.
Tausende Menschen zogen durch die Straßen.
Haßerfüllte Parolen schreiend. Die, die in Frieden und Freiheit lebten wollten ihn und seine Leidensgenossen nicht! Was sie skandierten verstand er nicht...in seinen Ohren aber klang es,
wie er es schon einmal gehört hatte: „Kreuziget ihn!“
Sie beriefen sich auf den einzigen Gott. Sie glaubten, diesen in ihrem Besitz zu haben.
Da wußte er, alle Bemühungen um eine gemeinsame Menschlichkeit waren umsonst,
alle Opfer gestern und heute nur dem Formelhaften geschuldet. Da wandte er sich ab , ging und weinte bitterlich: „Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun!“ Worte, von denen er meinte, sie einst selbst gebetet zu haben, klangen entfernt, ganz entfernt an sein Ohr: „Vater unser...“

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