Freitag, 23. Oktober 2009

Fremder, wenn du gehst

Er saß am Fenster des ICE. Das leichte, kaum merkliche Wiegen des Waggons schien die ermüdeten Reisenden des Großraumwagens einzulullen. Ein leichter Nieselregen wurde vom Fahrtwind über die Scheiben geschleift an denen sich die Tropfen horizontal wie Spinnenschleier verteilten. Das sanfte Dahingleiten des Zuges veranlasste ihn zurückzudenken. Alles hat sich verändert, sinnierte er . Vor mehr als fünfzehn Jahren war er dieselbe Bahnstrecke in umgekehrter Richtung schon einmal gefahren. Sein damaliger Zorn, seine Verzweiflung hatten in ihm immer wieder jenen Satz in seinen Ohren klingen lassen, der sich mit dem Rhythmus des Zuges wieder und wieder in sein Gedächtnis eingeprägt hatte: du bist .. .ratter, ratter, nicht mehr…ratter ratter, mein Sohn! Dann schlug die Tür zu seinem Elterhaus zu und das hasserfüllte, wutschnaubende Gesicht seines Vaters verschwand – nicht jedoch aus einem Gedächtnis in das es sich unauslöschlich tief eingeprägt hatte. Um ihn herum lebte alles von Veränderungen. Die Weltlage veränderte sich, auch er hatte durch die Erfahrungen des Lebens entscheidende Veränderungen durchgemacht, nur, eigenartig, diese letzte Bild seines Vaters war resistent in seinem Kopf und wollte sich durchaus nicht zu einem versöhnlichen Ausdruck wandeln. Irgendwo hatte er mal gelesen,
wo war ihm nicht mehr erinnerlich, dass es nicht die Meinungsverschiedenheiten bei Auseinandersetzungen sind, die zu unversöhnlichem Streit führen sondern vielmehr die Unfähigkeit bei Zwistigkeiten einander zu zuhören. Ob dies wohl nach so langer Zeit seinem Vater und ihm gelingen würde? Die Bereitschaft seinerseits war da – sonst hätte er sich die weite Reise nach Hause wohl erspart. Fragte sich nur, ob die überraschende Rückkehr auch alle Barrieren bei seinem Vater einreißen könnte. Je mehr er darüber nachdachte und der Zug sich seiner Heimatstadt auf wenige Kilometer genähert hatte, desto unruhiger wurde sein Gemüt. War es der richtige Schritt? Wenn es nach seiner Sehnsucht eines heimeligen Zuhauses oder besser des nach Hausekommens ging, gab es da keine Fragen. Nur sein ausgeprägter Realitätssinn sträubte sich, einem Wiedersehen ohne Wenn und Aber entgegen zu blicken.
Seine Überlegungen hatten ihn so beschäftigt, dass er kaum bemerkte, wie der ICE in den Hauptbahnhof einfuhr. Ebenso hatte sein Bewusstsein die sanfte Stimme der Ankunftsdurchsage ausgeblendet. Jetzt jedoch, wo der erste Schritt auf den Boden seiner Heimatstadt bevor stand, war er wieder hellwach. Er angelte seine Reistasche aus der Gepäckablage. Mehr als das Notwendigste für eine Übernachtung, wenn es sein sollte in einem Hotel, hatte er nicht eingepackt. Er ließ sich im Strom der aussteigenden Mitreisenden treiben und betrat den Bahnsteig. Der gerade vor einem Jahr renovierte Provinzbahnhof – früher hatte er sich gegen das Wort „Provinz“ heftig gewahrt, immerhin war seine Heimatstadt eine Großstadt mit über 300.000 Einwohnern – jener Provinzbahnhof also hatte seine verrußte und marode Schäbigkeit abgelegt und präsentierte sich als durchaus ansehnliches Schmuckstück aus den frühen Jahren der Jahrhundertwende. Er nahm dies als Zeichen von Wandlungsfähigkeit alt Hergebrachten, den Aufbruch von Verkrustungen ohne den eigentlichen Charakter zu verlieren. Die Rolltreppe brachte ihn in die gewölbte Haupthalle. Er sah sich nach einem Blumenladen um. Seine Mutter hatte eine Vorliebe für bunte Herbststräuße, von denen er den teuersten erstand. Danach ging er in die Bahnhofsbuchhandlung und suchte nach einer bestimmten Biografie. Sein Vater war ein äußerst strenggläubiger Katholik und als ehemaliger Messdiener im Paderborner Dom mitunter auch fanatisch, wenn es um Glaubensfragen ging.
Ein Buch über den Pabst Benedikt erschien ihm deshalb als Morgengabe zur erhofften Versöhnung angemessen.
Er trat auf den Bahnhofsvorplatz. Auch hier hatte sich viel verändert. Dort wo früher ein altes Hotel gestanden hatte, öffnete sich der Blick auf einen erweiterten Vorplatz hin zu einer neuen Stadthalle. Auch die U-Bahn war zwischenzeitlich fertig gestellt. Alles machte einen gelungenen Eindruck, wie er zu seiner Freude feststellte. Er hatte auch während seiner Abwesenheit ein festes Band der Erinnerung an seine geliebte Heimatstadt geknüpft, um so mehr erfüllte es ihn mit stolzer Genugtuung, dass sich das Stadtbild aus einem nichts sagenden Etwas zu einem passablen Anblick verändert hatte.
Er nahm ein Taxi und nannte dem Fahrer das Fahrziel. Es lag etwas außerhalb im vornehmen Westen der Stadt, wo die alten Villen des Bildungsbürgertums um die eher bescheiden wirkenden Einfamilien – und Reihenhäuser der späten 60er Jahre ergänzt wurden.
Gepflegte, parkähnliche Vorgärten mit hohen, abweisenden schmiedeisernen Eingangstoren wechselten unvermittelt in die zwar ebenso gepflegten doch steril wirkenden Vorgärten der Nachkriegsbauten. Reinlich, westfälisch ordentlich, schoss es ihm durch den Kopf. Nicht so malerisch dahin geworfen, fast unordentlich wie in seiner neuen Wahlheimat, der Toskana, nach der sich unvermittelt ein leichtes Sehnen einstellte. Beim Aussteigen aus dem Taxi hatten sich seine Beine offenbar in Pudding verwandelt, so merkwürdig nachgiebig fühlten sich seine Knie an. Er nahm sich zusammen und drückte tapfer den ihm so vertrauten Klingelknopf. Es dauerte eine Weile, bis an der Türsprechanlage die schnarrende Stimme seines Vaters ertönte.
„Wer ist da“, fragte es misstrauisch aus dem Lautsprecher. „Ich bin ´s – Karl-Heinz, dein Sohn“, versuchte er seiner Stimme einen möglichst fröhlichen Klang zu verleihen. „Ich habe keine Sohn“, klang es wütend zurück. Dann wurde aufgelegt. Sollte das Klacks des Türtelefons das Letzte sein, was er wieder mit zurück in sein neues Leben nahm? Er klingelte beharrlich, bis eine Stimme schrie: „Hau ab, dahin wo du hergekommen bist.“ Da kein „Klack“ angekündigt hatte, dass auf der anderen Seite der Hörer aufgelegt wurde, schrie der Ankömmling zurück: „Ich will Mutter sprechen!“ „Deine Mutter ist tot“, klack. Er konnte Sturm schellen soviel er wollte. Es regte sich nichts mehr hinter der Tür. Sein wütendes Hämmern mit den Fäusten wurde mit verachtenswerter Ruhe quittiert. Nach einer Weile gab er auf. Wie um seinem Vater eine schallende, symbolische Ohrfeige zu verpassen, legte er das Buch vor die Tür.
Gleichsam als wollte er ihm vor Augen führen, dass dieser Christliche Nächstenliebe und Vergebung in seiner intoleranten, fanatischen Art soeben ausgesperrt hatte. Gerade die von Christus so hoch gepriesene Liebe trennte ihn nun vom seinem Vater. Sicherlich hatte Jesus nicht unbedingt die homosexuelle Liebe dabei im Auge gehabt, aber immerhin die Vergebung und Erlösung. Sein Vater aber konnte seine Neigung weder annehmen noch ihm verzeihen.
Es hatte zu regnen angefangen und die Regentropfen klatschten in sein Gesicht. Sie liefen ihm die Wangen hinunter – oder waren es Tränen, die sich mit dem Regenwasser mischten?
Der Weg zu dem Stadtteil-Friedhof war nicht weit. Er betrat den Friedhof durch das kleine Tor an der Kapelle und erkundigte sich dort bei den arbeitenden Friedhofsgärtnern nach dem Grab seiner Mutter. Er erntete zunächst nur unverständiges Achselzucken, bis ein älterer Gärtner hinzutrat in dessen Pflege-Bereich zufällig die Grabstätte seiner Mutter fiel. Der Mann war bereit ihn zu dem Grab zu führen.
Hier stand er nun, der verlorene Sohn. Er legte den Herbstblumenstrauß vor dem Grabstein nieder und verharrte eine Weile wie erstarrt. Kein Gebt kam ihm über die Lippen, er hatte vergessen, wie man betet. Wie er auch vergessen hatte, dass sein und seines Vaters Streit und Unnachgiebigkeit das Opfer einer unheilbar verletzten Seele gekostet hatten. Er wandte sich um und ging schweren Schrittes den Weg zurück, den er gekommen war. Er nahm die vertraute Gegend wie ein Fremder wahr. In seinem Hirn formten sich bei jedem seiner Schritte die Worte: „ fremd“, tock tock tock, „bist u du,“ tock tock, „wenn du gehst,“ tock tock…

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